Ranküne im Mittelalter und ewiggültige Bibel; Verdi mal 2 und der dänische Komponist Carl Nielsen
Vom 5.6. – 11.6.2015 Jahres führte die Musiktheaterreise wiederum in ein skandinavisches Land. Dänemark mit seinem modernen Kopenhagener Opernhaus war das Hauptziel der Busreise. Ein Zwischenstopp in der Hansestadt Lübeck mit ihrer historischen Altstadt war nach langer Fahrt willkommen.

Die Hansestadt Lübeck mit ihrer unvergleichlichen Backsteingotik hätte zum Verweilen eingeladen, aber mehr als ein Abendspaziergang ging sich nicht aus. Die Kirche St. Marien war offen, eine Gedenktafel erinnerte an Buxtehude. Marktstände mit Fischangebot waren am Platz vor dem Renaissance-Rathaus aufgebaut, aber eine erste musikalische Begegnung auf dem Platz wurde nicht unbedingt goutiert: 4 betagte Herren, „The Silver Shadows“, spielten nostalgischen Rock n‘ Roll.

Die Überfahrt mit der Fähre von der Halbinsel Fehmarn auf die dänische Insel Lolland und das „Inselhüpfen“ von Falster zur Hauptinsel Seeland gab schon einen Vorgeschmack dessen, was Dänemark ausmacht. 7.400 km Küste sind vom Meer umspült! In jeder Bucht ankern Schiffe, vom Fischerboot über teure Yachten bis hin zum Luxusdampfer im Kopenhagener Hafen. Im 11. Jahrhundert waren es die Wikinger, die mit ihren hochseetauglichen Schiffen übers Meer fuhren. Im Wikingerschiffsmuseum in der alten Königsstadt Roskilde konnten die Musiktheaterfreunde fünf im Jahr 1962 aus dem Meer geborgene, gut erhaltene Wikingerschiffe bewundern. Zum Schutz der Königsstadt vor feindlichen Flotten waren sie dereinst im Roskilde Fjord vor dem Ort Skuldelev von den Wikingern quer zur Fahrrinne versenkt worden, um die Zufahrt zur Königsstadt zu versperren. Besichtigungsziel in Roskilde war auch der ehrwürdige Backstein-Dom mit den Sarkophagen der dänischen Könige. Vor 500 Jahren wurde Königin Margarete I. am Hauptaltar zur letzten Ruhe gebettet, seither wurden in Seitenkapellen viele dänische Könige, die entweder Christian oder Frederik hießen, in Sarkophagen bestattet, die den Baustil der jeweiligen Zeit widerspiegeln. Was für eine Demonstration des dänischen Königreiches, von irdischer Macht und Vergänglichkeit, über Jahrhunderte hinweg!

Der erste Eindruck der dänischen Hauptstadt bei der Anreise zum Hotel: ganz Kopenhagen ist Baustelle. Auch die Sankt Annae Plads mit seinem Hotel Neptun, wo die Musiktheaterfreunde für vier Tage einquartiert waren, ist aufgegraben, ein Boulevard mit Baumreihen und Bänken ist geplant, bis hin zu einer ins Hafenbecken hineinragenden Terrasse, die übergeht ins Entree zum modernen Schauspielhaus. DER Pluspunkt des Hotels ist die zentrale Lage. Ein paar Schritte nur zum Nyhavn mit seiner historischen Häuserzeile, den Schanigärten der Bars und Restaurants und den an den Ufern des Kanals vertäuten, ausgedienten Segelschiffen.

In Kopenhagen wird eine U-Bahn gebaut. Am dritten Tag erreichte der Bus dank Lars Kristensens Hinweisen über Umwege die Sehenswürdigkeiten von Kopenhagen. Ehemals glanzvolle Hauptstadt des Königsreiches dreier Länder, Dänemarks, Norwegens und Schwedens, bietet Kopenhagen heute Anschauungsunterricht für Baustile quer durch die Jahrhunderte. Die herrschaftlichen Backsteinbauten mit Treppengiebeln hatten es den „Freunden“ besonders angetan, ein Besichtigungs-Muss waren die Rokokopaläste von Amalienborg, wo die Monarchin Margarethe II. residiert, dann natürlich die von chinesischen Reisegruppen belagerte Meerjungfrau und die alte Verteidigungsanlage mit dem Gefionbrunnen und den mythologischen Bronze-Plastiken zu  Dänemarks Schöpfungsgeschichte. Bevor Lars die „Freunde“ zum neuen Opernhaus brachte, kündigte er noch eine Überraschung an. Der Bus fuhr zu einem Außenbezirk nahe der Brücke nach Malmö. Im Niemandsland, das dereinst verbaut sein wird, ragte ein imposantes Bauwerk in den Himmel, ein Doppelturm, dessen Außenfassaden übersät sind mit Dreiecksmustern in Blau und Weiß. Das Hotel Bella Sky! Auch das ist Kopenhagen.

Der dänische Reeder Maersk Mc-Kinney Möller spendierte den Kopenhagenern ein modernes Opernhaus auf einer Insel des Hafenbeckens, genau gegenüber den Palästen von Amalienborg. Die Innenausstattung der Königlichen Oper mit weitausladender Dachplatte verblüfft. Ein riesiger „Apfel“ aus dunkelrotgebeiztem dänischem Ahorn verbirgt  Bühne und Zuschauerraum. Die „Freunde“ speisten im Hochfoyer, mit Blick aufs Wasser. Auf einem Langteller angerichtet waren Spargel, Fisch, Hühnchen, Käse und Rhabarberschnitte. Der Opernchef des Hauses, der Hamburger Sven Müller, der auch schon an der Grazer Oper engagiert war, nahm sich für die Musiktheaterfreunde Zeit und begrüßte sie. Die Königliche Oper stünde nicht so im Interesse der Bevölkerung wie die Wiener Oper, im Jahr gebe es nur 5 – 6 Premieren, durch Tage der offenen Tür werde versucht, junges Publikum zu gewinnen, das Verhältnis „staatliche Unterstützung“, „Sponsorengelder“, „Kartenverkauf“, sei 75 zu 10 zu 15. Das Danish Royal Orchestra sei eines der ältesten der Welt. Und die neue Oper feiere heuer ihren zehnjährigen Bestand.

Die Nachmittagsvorstellung der Verdi-Oper „Die sizilianische Vesper“ mit dem großartigen Erwin Schrott als Revolutionär Procida entführte, bei mitreißendem Dirigat,  in die fantastischen Welten des norwegischen Starregisseurs Stefan Herheim. Bühnenwahrheit hat gegenüber der historischen Vorlage den Vorrang. Ballettmädchen in weißen und schwarzen Tüllröckchen verweisen auf Verdis komponierte Ballettnummer für die Pariser Oper. Sie haben bei Herheim nicht nur ästhetische Funktion, sondern sprechen das Los der Frauen an. Das Programmheft gibt Aufschluss über Herheims Intentionen. Kurzes Zitat in deutscher Übersetzung: „Eros begleitet Thanatos beim Tanz an den Rändern des ausbrechenden Vulkans. Das visuelle Moment scheint überstrapaziert, aber es gibt exakt Verdis Credo wieder, das da lautet inventare il vero.“ 

Nach Ausflügen in die Kopenhagener Umgebung und zur „dänischen Riviera“ mit wehrhaftem Schloss Kronborg in Helsingör, monarchischer Sommerresidenz Schloss Fredensborg  und märchenhaftem Renaissance-Wasserschloss Frederiksborg erwartete die „Freunde“ am fünften Tag ihrer Musiktheaterreise eine Besonderheit der Opernliteratur. Carl Nielsens Oper „Saul und David“ stand am Programm. „Den Kongelige Opera“ ehrte damit den vor 150 Jahren verstorbenen Komponisten. Der ein oder andere Musikliebhaber mag dem großen Dänen Carl Nielsen schon dann und wann als Symphoniker begegnet sein – er schrieb neben Liedern, Kammermusik und Klavierstücken sechs Symphonien – aber einer Nielsen-Oper?

Biografische Details über Carl Nielsen und die Einschätzung seiner Bedeutung als Komponist hatten die „Freunde“ von Rudolf Wallner erfahren. Wie erlebten die „Freunde“ seine Musik? Sie stuften sie als spätromantisch ein, mit ihrer großen Geste noch dem ausgehenden 19. Jahrhundert verpflichtet, rauschhaft, dicht und verwoben.

David Pountney, den Linzern kein Unbekannter, inszenierte die Oper, die eine biblische Geschichte zur Vorlage hat. David macht sich zunächst bei Saul beliebt, weil er die Philister und den starken Goliath besiegt, erregt aber dann Sauls Eifersucht, weil das Volk ihm zujubelt und nicht dem König. Pountney stellt in seiner Inszenierung Bezüge zum Nahostkonflikt her. Außerdem bildet er die heutige Medienwelt ab, ein „aufgeschnittenes“ Haus zeigt viele Räume mit Fernsehapparaten. Das Konterfei des absoluten Herrschers, des Saul, flimmert auf allen Schirmen. Im Programmheft schreibt Henrik Goldschmidt, artistic director of The Middle East Peace Orchestra (aus dem Englischen übersetzt): „In Nielsens Oper wird Saul bestraft, weil er jeden Versuch der Aussöhnung der Konfliktparteien zurückweist. […] Ich finde es sehr schön, dass derjenige, der sich nicht aussöhnen will, bestraft wird. Es lohnt sich also, versöhnlich zu sein. Vergib den Nachbarn, wenn sie dir was antun, und igle dich nicht ein, denn das führt zu Kampf und Rache.“

Rudolf Wallner und Lars Kristensen, der auch der Aufführung beigewohnt hat, schwebten, wie sie im Bus bei der Fahrt zum Hotel ins Mikro riefen, „über allen Wolken“. Die „Freunde“ waren nicht einhelliger Meinung, was den Stoff, die Inszenierung und die Wiedergabe der Musik betrifft. Die Musik sei sehr schön aber zu laut gewesen, die Leistungen der Sänger, vor allem des scheiternden Saul (Bariton) und des visionären Jünglings David (Tenor) seien bewundernswert gewesen. Ja, und auch der abgebrühte Prophet Samuel (Sauls Einflüsterer) und Sauls Tochter Mikal, die David liebt, überzeugten. Das Schauspiel des nördlichen Abendhimmels beim Verlassen der Oper war aber auch nicht zu verachten. Um 23 Uhr war der Himmel über Kopenhagen noch nicht dunkel, Spiegelungen im Wasser des Hafens waren zauberhaft, Hans Christian Andersen ließ grüßen!  

Am Mittwoch, auf der Rückreise über den Kleinen und Großen Belt zum dänischen Festland, wurden Carl Nielsen und seiner Frau, der Bildhauerin Anne Marie Carl-Nielsen, noch die Aufwartung gemacht, in Odense auf der Insel Fünen. In Hamburg, wo die „Freunde“ noch einmal übernachteten, stand wieder Verdi, diesmal „Simon Boccanegra“ am Programm. Die deutsche Übertitelung in der Oper war hilfreich! Die etwas verworrene Handlung mit Schauplatz mittelalterliches Genua konnte gut nachvollzogen werden, auch – so die Meinung einiger „Freunde“ – dank der Inszenierung des Regisseurs Claus Guth, die, das Bühnenbild mit einbezogen, einer Gesamt-Choreografie glich. Das Dirigat von Simone Young – so die Meinung vieler „Freunde“ – wurde der Dramatik Verdi’scher Musik nicht ganz gerecht. Rudolf Wallner und mit ihm einige Gleichgesinnte hießen Claus Guth’s Einfälle nicht gut – aber das macht ja auch Musiktheaterreisen aus, Diskussionsstoff zu haben, Meinungen austauschen zu können, und, im Idealfall, die Begeisterung für eine geglückte Aufführung zu teilen.

Heide Stockinger